Wenn Pfarrer Thomas Hüsch aus dem Fenster schaut, von der Sakristei der Kirche St. Johannes Nepomuk am Felsen in Richtung Süden, dann blickt er immer auf fröhliche Gesichter – egal, ob vor dem Sonntagsgottesdienst oder unter der Woche. „Der Anblick ist immer noch ungewöhnlich“, sagt er schmunzelnd: „Davor war dort jahrelang nur ein ungepflegter, leerer Garten.“ Jetzt sind in dem angrenzenden Haus 15 Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine mit dutzenden Kindern vom Säuglingsalter bis zu Teenagern untergebracht – eine Initiative, an der die deutschsprachige Pfarrei in Prag einen entscheidenden Anteil hat.
Es ist ein ganz besonderes Haus, das jetzt umgewidmet wurde: die alte Pfarrvilla, die im Schatten der Kirche steht. So schön ist das neo-barocke Haus und so zentral im Prager Stadtzentrum, dass hier über Jahrzehnte eine Pension untergebracht war. Das Prager Erzbistum als Besitzer hatte das Gebäude an einen externen Betreiber vermietet, der allerdings schon 2018 den Betrieb einstellte; seither steht die Pfarrvilla leer. Und Villa ist nicht untertrieben: An den steilen Hang hier in der Prager Neustadt schmiegt sich das Haus mit repräsentativer Außentreppe und hohem Eingangsfoyer. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte es ein Pfarrer errichten lassen, der in der benachbarten Kirche seinen Dienst tat – auch das ein wunderbares Gebäude, das unter Experten zu einer der schönsten Barockkirchen in Prag gezählt wird, erbaut vom Baumeister Kilian Ignaz Dientzenhofer und heute die Heimat der deutschsprachigen Gemeinde.
„Ich selbst war 2021 überhaupt zum ersten Mal in der alten Pfarrvilla, weil die normalerweise nicht zugänglich ist“, sagt Reinhard Kaiser, der Mesner der Gemeinde und Initiator des Flüchtlingshilfe-Projekts. Damals fiel die Toilette in der Kirche wegen eines Wasserschadens ausgerechnet in der Phase aus, in der die Lange Nacht der Kirchen stattfand – in Tschechien eine riesige Aktion, bei der Tausende Prager eine Nacht lang von Kirche zu Kirche ziehen und sich die historischen Schönheiten anschauen. „Also bekamen wir den Schlüssel zur Pfarrvilla, damit unsere Helfer eine Toilette zur Verfügung hatten“, erinnert sich Reinhard Kaiser – und als er zum ersten Mal die Villa betrat, war er begeistert von dem Haus. Im schicksalhaften Februar 2022, gleich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, kam ihm das leerstehende Haus wieder in den Sinn: „Überall wurden händeringend Unterbringungsmöglichkeiten gesucht, und als ich die Idee bei uns in der Gemeinde ansprach, waren alle begeistert“, sagt Reinhard Kaiser. Seine Frau übernahm die tschechische Kommunikation und kontaktierte das Erzbistum, den Eigentümer des Gebäudes – und es zeigte sich, dass in der Zwischenzeit die örtliche Caritas die gleiche Idee hatte. Beide schlossen sich kurzerhand zusammen: Die Caritas übernahm die Trägerschaft, die deutsche Pfarrgemeinde leistete einen beträchtlichen Teil der Vorbereitungsarbeiten – innerhalb von wenigen Tagen nach der ersten Mail waren alle entscheidenden Eckpunkte abgesprochen.
„Das Haus war am Anfang nicht bezugsfertig“, sagt Reinhard Kaiser im Rückblick auf die ersten Sondierungsbesuche: Das Gebäude selbst war in gutem Zustand, aber es fehlten die Lampen und sogar die Steckdosen, von der weiteren Einrichtung ganz zu schweigen.
Was daraufhin anrollte, wurde zu einer der größten Aktionen in der Geschichte der deutschen Pfarrgemeinde.
An einem ersten Wochenende kamen 15 Helfer aus der Gemeinde zusammen, um den verwilderten Garten auf Vordermann zu bringen. Parallel dazu waren Handwerker im Haus, um alle jene Arbeiten zu erledigen, für die ausgebildete Fachleute benötigt werden. Die nächsten beiden Wochenenden liefen die ehrenamtlichen Helfer endgültig zur Hochform auf: 40 Freiwillige packten mit an, unterstützt von Mitgliedern der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde und weiteren Helfern, die nicht zum harten Kern der Gemeinden gehören – die Kunde von der großen Hilfsaktion machte per Mundpropaganda und über Facebook-Aufrufe die Runde. So wurde zeitweise in vielen verschiedenen Sprachen gleichzeitig gesprochen, darunter neben Deutsch und Tschechisch auch Englisch, Ukrainisch, Polnisch – und auch Russisch.
Es wurde erst einmal geputzt, dann kam lastwagenweise die Ausstattung der Caritas: 50 Betten mitsamt Matratzen und Bettwäsche, drei Waschmaschinen, Wäschetrockner, Küchengeräte – und die Helfer verteilten die Güter auf die Zimmer. Geschirr, Kleidung, Spielsachen, Lebensmittel und vieles mehr wurde von den Gemeindemitgliedern gespendet, sortiert und vorbereitet. Zur Mittagspause sprachen beide Pfarrer gemeinsam ein Friedensgebet: Thomas Hüsch für die katholische und seine Kollegin Veronika Förster-Blume für die evangelische Gemeinde. „Diese Tage werde ich nie vergessen: die gewaltige Hilfsbereitschaft und dieses Gemeinschaftsgefühl, mit dem alle am gleichen Strang gezogen haben“, sagt Reinhard Kaiser: So oft fragten immer neue Helfer bei ihm nach, wo sie mit anpacken könnten, dass ihm fast die zu verteilenden Aufgaben ausgegangen wären. Sogar die FAZ berichtete in ihrem Politikteil über die Hilfsaktion der Prager Gemeinde.
Im Prager Erzbistum hat sich die deutsche Pfarrei nicht zuletzt dank ihrer engagierten Mitglieder einen Namen gemacht. Erst im Jahr 2016 wurde sie zur eigenständigen Pfarrei erhoben. Zur Gemeinde zählen Mitglieder, die für ein paar Jahre wegen ihres Berufs in Prag gelandet sind, aber mittlerweile überwiegend Deutsche, die langfristig in Prag leben. Dadurch konnten sich in der Gemeinde viele Abläufe und Strukturen fügen – und die Mitglieder arbeiten mit immer neuen Ideen daran, das Gemeindeleben abwechslungsreich zu gestalten. Die jährliche Beteiligung an der Langen Nacht der Kirchen zählt zu den regelmäßigen Aktivitäten ebenso wie ein Familiengottesdienst, der jetzt nach dem Wegfall der letzten Corona-Beschränkungen regelmäßiger Bestandteil des Angebots werden soll.
Wie schlagkräftig die Gemeinde ist, zeigte sich bei der Umgestaltung der Pfarrvilla beispielhaft: Über ihren großen Verteiler erreichten die Mitglieder zahlreiche Helfer – und sogar viele ukrainische Bedürftige. „In der Hochphase haben wir hunderte Mails bekommen mit Hilfsangeboten, Geld- sowie Sachspenden und auch mit Anfragen, ob noch ein Platz für eine Familie frei sei“, erinnert sich Reinhard Kaiser. Die endgültige Entscheidung, wer in der Pfarrvilla unterkommen kann, lag schließlich bei der Caritas als Trägerin der Unterkunft. Eine Frau beispielsweise ist darunter, die mit sieben Pflegekindern aus Mariupol geflüchtet ist, sowie eine Familie mit einem körperlich beeinträchtigten Kind.
Dank ihrer Vergangenheit als Pension verfügte die Pfarrvilla bereits über die nötige Raumaufteilung: Die 15 einstigen Gästezimmer und –appartments hatten schon vorher jeweils ein eigenes Bad, die meisten von ihnen wurden jetzt zusätzlich mit Wasserkocher und Mikrowelle ausgestattet; eine gemeinsame Küche ist für größere Kochaktionen geeignet. Denn Kern des Konzeptes ist es, dass sich die Flüchtlinge selbst versorgen sollen – auch, um schnell in Prag Fuß zu fassen. Eine der Frauen spricht gut tschechisch und hilft den anderen bei Behördengängen und offiziellen Besorgungen; wechselseitig hüten sie die Kinder und manche kochen gemeinsam ihre Mahlzeiten. Auch für die deutschsprachige Pfarrei ist das Projekt mit dem Einzug der Flüchtlinge noch nicht beendet: Weiterhin gibt es ein Spendenkonto, um mit den gesammelten Mitteln die Flüchtlinge zu unterstützen.
Und dann ist da natürlich der Blick aus dem Fenster der Sakristei, den Pfarrer Thomas Hüsch regelmäßig genießt: den Blick hinunter in den aufgeräumten Garten der Pfarrvilla, in den jetzt nach vielen Jahren des Leerstands endlich wieder Leben eingekehrt ist.
Kilian Kirchgeßner – Korrespondent für Tschechien und die Slowakei
2022_2_miteinander_www-Version.pdf (auslandsseelsorge.de)